Geschlecht und Körper im Wicca: Zwischen Diversität und Essentialismus

Geschlecht und Körper im Wicca: Zwischen Diversität und Essentialismus (Annika Friedrichs)

Wicca mag vielen ein Fremdwort sein, anderen wiederum gefährlich erscheinen, einigen jedoch bekannt sein als ein Glaube, der sich durch ein egalitäres Selbstverständnis auszeichnet. Auf den ersten Blick erscheint diese friedliche Naturreligion befreiend, besonders im Kontrast zum Christentum. In den 50er- und 60er-Jahren, als Wicca von Gerald Brosseau Gardner popularisiert wurde, war es feministisch. Nicht nur Gleichberechtigung wurde postuliert, auch die Rückaneignung des Begriffs „Hexe“[1] durch die Mitglieder, welche bis heute anhält, richtete sich explizit gegen gesellschaftliche Normen. Nichtsdestotrotz kann nachgewiesen werden, dass auch dieser Glaube restriktive Strukturen aufweist, besonders im Hinblick auf Geschlecht und Körper. Um diese aufzudecken, lohnt sich ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der Religion.

Wicca-Anhänger*innen – Hexen – verehren vornehmlich eine Göttin und einen Gott, wobei der Göttin oft mehr Hingabe gebührt. Sie wird unter anderem als Isis, Diana oder Hekate benannt, er oft als Cernunnos oder Herne. Es gibt unterschiedliche Ausprägungen der Theologie: Viele sehen in Göttin und Gott Polaritäten, die auch in jedem Menschen vorhanden und damit nicht klar voneinander abzugrenzen sind; zwei miteinander verschmolzene Ausprägungen derselben Göttlichkeit. Andere sehen in ihnen nicht nur göttliche Prinzipien, sondern tatsächliche reale Gottheiten. Die Göttin durchläuft, kongruent mit den Jahreszeiten, die Lebensalter der Jungfrau, der Mutter und der Alten Weisen. Der „Gehörnte Gott“ wiederum, eher royalen Mustern oder virilen Jagdmotiven folgend, geht mit der Göttin die heilige Ehe ein, zeugt sich selbst, um nach einem im Tod endenden Kampf zweier seiner Aspekte – „Stechpalmenkönig“ und „Eichenkönig“ – wiedergeboren zu werden und den Kreislauf erneut in Gang zu setzen.[2] In der gemeinsamen Verehrung der beiden spielt ihre Interdependenz eine wichtige Rolle. Es gibt allerdings auch Wicca-Gruppen, die ausschließlich der beziehungsweise einer Göttin huldigen. Üblich ist die Organisation der Gläubigen in Hexenzirkeln, sogenannten „Covens“. Hier können alle Mitglieder zum Rang der Hohepriesterin oder des Hohepriesters aufsteigen, müssen dafür aber zunächst zwei weitere Grade absolvieren.

Nachdem das Hexengesetz, der noch aus der frühen Neuzeit stammende sogenannte „Witchcraft Act, 1951 abgeschafft worden war, konnte Gerald Gardner öffentlich als Hexe auftreten und gewann Interessierte ebenso wie Medienaufmerksamkeit.[3] Gardner, gelernter Anthropologe, bündelte aus verschiedensten Einflüssen zusammengestellte Rituale in einer neuen Praxis. Seine Veröffentlichungen liefern nicht nur eine praktische Anleitung, sondern geben Wicca auch seine Entstehungsgeschichte.[4] Gardner nimmt an, dass es sich bei seinem zeitgenössischen Hexenglauben um eine Religion handele, die ihre Wurzeln bereits in prähistorischer Zeit habe.[5]

Seine Riten zeichnen sich durchweg durch eine gewisse Körperlichkeit aus. So betont er beispielsweise den Wert der rituellen Nacktheit.[6] Er begründet diese unter anderem damit, dass der Mensch ein „elektromagnetisches Feld“ besitze, welches Gardner zu sehen vermöge, „aber nur am nackten Körper“.[7] Auch ist das Primat des Weiblichen in der Praxis nicht mehr genau erkennbar. Zum einen ist da der sogenannte „Fivefold Kiss“, bei dem die Füße, Knie, der „Schoß“ (im englischen Original „womb“, was gleichzeitig Gebärmutter bedeutet), die Brüste und die Lippen der Hohepriesterin vom Hohepriester mit einem Segen und einem Kuss bedacht werden.[8] Das männliche Äquivalent ist allgemein seltener. Zu kritisieren ist hier ein impliziter Ableismus und die Definition des Frau-Seins durch die explizite Heiligung der Geschlechtsmerkmale.[9] Bedenklich erscheint auch der Initiationsritus, bei dem die betreffende Person – welche durchgängig als „she“ bezeichnet wird – gefesselt und gepeitscht wird. Begründet wird dies damit, dass diese Prüfung die Bereitschaft der betreffenden Person beweisen solle und dass man durch Leiden lerne, doch es stellt sich die Frage, wie man, vor einem Altar in die Knie gezwungen und gegeißelt, von „Perfect Love and Perfect Trust“ sprechen kann.[10]

Außerdem findet das Auspeitschen auch an anderen Stellen statt und wird dabei euphemistisch als „Reinigung“ bezeichnet. Die wechselnden Begründungen (später ist auch vom Verlangsamen der Durchblutung zum Erreichen eines Trance-Zustandes die Rede) sowie der Hinweis, dass Paare einander reinigen sollten, lassen darauf schließen, dass Gardner eventuell persönliche Motive verfolgt haben könnte.[11] Wenngleich Gardners weiteres Wirken darauf abzielt, Wicca in eine uralte Tradition zu stellen, so fehlen doch die Belege für die Historizität dieser Handlungen. Vielmehr folgen sie maßgeblich den Ritualen der Freimaurer und anderer Geheimgesellschaften, welche selbst bis in die Antike reichende Traditionslinien zur eigenen Legitimation konstruierten.[12] Wiederholt wird erwähnt, wie sich der Mann zu Füßen der Frau wirft, dennoch gilt selbst in Gardners Religion der Göttin, dass alle Macht vom Mann ausgeht.[13]

Gardners Vorstellungen und auch seine Rituale wurden im Laufe der Zeit weiterentwickelt, auch in feministischen Richtungen, bilden aber noch immer den Grundstein des religiösen Lebens vieler Hexen. Besonders eine essentialistische Vorstellung von Geschlecht herrscht vor. Diese lässt sich bereits bei Gardner belegen. Beispielsweise steht die Vagina der Priesterin im Zentrum der Initiation dritten Grades.[14] Ein ritueller Zirkel besteht immer aus Männern und Frauen, abwechselnd aufgestellt.[15] Auch die Werkzeuge, ein Messer und ein Kelch, repräsentieren ein aktives männliches und ein passives weibliches Prinzip. Die Rituale enthalten eine symbolische Penetration, bei der das Werkzeug von der jeweils gegengeschlechtlichen Person gehalten wird.[16] Männer und Frauen werden als Pendants zueinander skizziert und auf ihre cis- und bigeschlechtlichen Funktionen reduziert. Außerdem sei hier erwähnt, dass Gardner weibliche Schönheit und Jugend für unerlässlich hält, um die Göttin zu repräsentieren.[17]

Der Wicca-Glaube existiert unter der Spannung, dass das Göttlich-Männliche eigentlich eine unterstützende Rolle einnimmt, in der Praxis jedoch das (Göttlich-)Weibliche unter den rigiden Geschlechterkonzeptionen leidet. Zugespitzt könnte man sagen, dass der Gott nur existiert, um seine Lebenskraft abzugeben und dann zu sterben. Die drei Aspekte der Göttin sind ein zentraler Punkt der Verehrung, doch stirbt sie nicht. Der Gott ist durch seine Sterblichkeit menschlicher. Dem Göttlich-Weiblichen kommt dagegen eine repräsentative Funktion zu. Dabei gibt es viele Möglichkeiten für Frauen, das Göttliche in sich selbst zu erkennen. Die Frau wird in all ihren Lebensphasen gefeiert. Oft wird unterstrichen, dass Hexen historisch in Verbindung mit Heilung, mit der palliativen Pflege sowie mit der Geburtshilfe standen. Der Körper wird mithilfe von Magie von der Geburt bis zum Tod, im kranken wie im gesunden Zustand begleitet. Auch die Beziehung der Göttin zum Mond hat eine physische Komponente: Das Ritual „Drawing Down the Moon“ (deutsch „Herabziehen des Mondes“) ist eine Invokation der Göttin, bei der sie in Gestalt des Mondes, auf die Erde hinabgezogen und in den Körper der Hohepriesterin eingeladen wird.[18] Menschlicher Körper und Himmelskörper werden eins, wodurch die im Wicca prävalente Vorstellung der Göttlichkeit in jedem Menschen ihren Ausdruck findet. Viele Wicca-Anhänger*innen glauben, dass magische Kraft direkt aus dem Körper, wenn nicht sogar aus der Gebärmutter, zu beziehen ist.[19] Weiblichkeit erfährt eine Heiligung, zugleich aber eine Reduktion auf ausgewählte Funktionen und eine Abgrenzung vom Männlichen.

Die beschriebenen Konzeptionen von Geschlecht und vom menschlichen Körper haben dazu geführt, dass viele, vor allem transidente und nichtbinäre Personen, sich von Wicca ausgeschlossen fühlen oder zumindest ihren Zugang zu bestehenden Gruppen anzweifeln. Moderne Wicca-Anhänger*innen gelten als aufgeschlossen, sind häufig selbst queer, doch geben diese Vorstellungen durchaus Anlass zu radikalen Interpretationen und Exklusion. Noch immer ist die Idee des Hexentums als weibliche Berufung oder gar matrilineare Tradition weit verbreitet. Damit verschwimmen auch die Grenzen zur „TERF“-Ideologie.[20] Wirft man noch einen letzten Blick zurück auf die Genese des Wicca, muss bemerkt werden, dass der wissenschaftliche wie feministische Diskurs – als „Göttinnenbewegung“ bezeichnet – , in dessen Kontext sie steht, sich vor allem durch eines auszeichnet: Die Erfindung eines Göttlich-Weiblichen, die Untersuchung dessen in Bezug auf männliche Subjekte, und ausgerichtet auf deren Bedürfnisse.[21] Grundsätzlich stellt die Konstruiertheit von Religionen natürlich kein Problem dar, wird hier aber vor allem dazu verwendet, klare Rollen zu entwerfen und zu legitimieren. Wicca ist nicht monolithisch zu sehen, beruht aber auf Gender-Essentialismus und der Verehrung des „perfekten“ weiblichen Körpers. Seit den 50er-Jahren hat sich Wicca selbstverständlich weiterentwickelt und unter den Gläubigen sind viele, die sich von Quellen und veralteten Sichtweisen nicht beeinflussen lassen wollen. Um diese positive Entwicklung weiter zu verfolgen, müssen moderne Hexen diejenigen Aspekte ihrer Religion fördern, die sich der Akzeptanz, dem offenen Ausleben von Sexualität und Identität sowie der Sakralisierung des Körpers verschrieben haben.


[1] In der Community wird dieser Begriff geschlechtsneutral verwendet, was auch durchaus etymologisch begründet werden kann. Im Allgemeinen ist er natürlich weiblich besetzt, was oft dazu führt, dass Männer daran zweifeln, ob dieser Glaube der richtige für sie ist.

[2] Im klassischen „Jahreskreis” des Wicca, acht Feiertagen, darunter hauptsächlich Sonnenwenden und Äquinoktien, die einem agrarischen Kalender (der nördlichen Hemisphäre) folgen, wird der sogenannte „Stechpalmenkönig“, der das abnehmende Jahr, d.h. die dunkle Jahreszeit repräsentiert beispielsweise zur Wintersonnenwende vom „Eichenkönig“ (Gott des zunehmenden Jahres) besiegt, was die Rückkehr des Lichts mythologisiert.

[3] Zum Witchcraft Act vgl. Marion Gibson: Witchcraft in the Courts, in: Dies. (Hg.): Witchcraft and Society in England and America, 1550–1750, London 2006, S. 1–9, S.

[4] Für diese Untersuchung relevant sind: Gerald B. Gardner: Witchcraft Today, London/New York 1954 sowie The Gardnerian Book of Shadows, Erstauflage zwischen 1948 und 1961. Die einzelnen Einträge sind unterschiedlich datiert. Dieses Buch war ursprünglich nicht zur Publikation vorgesehen, wurde aber immer wieder veröffentlicht, zuerst in Teilen in Aidan Kelly: Crafting the Art of Magic, St Paul 1991.

[5] Vgl. hierzu auch Margaret A. Murray: The God of the Witches, London 1931. In diesem einflussreichen Werk stellt Murray die These auf, dass es einen singulären paganen Glauben, den Kult des Gehörnten Gottes, gebe, der sich auf einen paläolithischen Fruchtbarkeitskult zurückverfolgen lasse. Hier haben auch weitere mittlerweile widerlegte Fakten, die von vielen Hexen zitiert werden, ihren Ursprung, so etwa, dass es sich bei den Opfern der Hexenverfolgung tatsächlich um Anhänger*innen der überlebenden alten Religion handle. Generell zeichnet sich Murrays Arbeit dadurch aus, dass sie Geständnisse und dämonologische Traktate aus dieser Zeit unhinterfragt zitiert.

[6] Abschnitt „Skyclad“ (deutsch „im Himmelskleid“) in Gerald B. Gardner: The Gardnerian Book of Shadows, London 2019, S. 43.

[7] Gerald B. Gardner: Ursprung und Wirklichkeit der Hexen. Witchcraft Today, 2. überarbeitete Auflage, Hamburg 2004, S. 20.

[8] Gardner 2019, S.3.

[9] Zum Ableismus vgl. auch: „For each man and woman hath ten fingers and ten toes, so each totals a score. And a perfect couple be two score. So a lesser number would not be perfect prayer.”, ebd., S. 26.

[10] Zur Initiation ersten Grades vgl. Gardner 2019, S. 6–9.

[11] Vgl. zum Beispiel ebd., S. 17. Zumindest Gardners Vorliebe für rituelle Nacktheit kann man damit in Verbindung bringen, dass Gardner Nudist war. Über persönliche Motive hinter rituellen Handlungen lässt sich aber selbstverständlich nur spekulieren. Vgl. hierzu Ronald Hutton: The Triumph of the Moon. A History of Modern Pagan Witchcraft, Oxford 2021, S. 221.

[12] Vgl. Hutton 2021, S. 57–89. Gardner hatte auch andere Einflüsse, doch vor allem das Fesseln und Geißeln war bei diesen Gesellschaften üblich. Auch findet man dort die Ursprünge für den „fivefold kiss“.

[13] „But the Priestess should ever mind that all power comes from him”, Gardner 2019, S. 70.

[14] Vgl. ebd., S. 13.

[15] Vgl. ebd., S. 81.

[16] Vgl. ebd., S. 15.

[17] Vgl. ebd., S. 70.

[18] Vgl. ebd., S. 3.

[19] Vgl. zum Beispiel Hutton 2021, S. 310 zur Verbindung von Fruchtbarkeit und Magie.

[20] „TERF“ – „trans-exclusionary radical feminist“ ist die Selbstbezeichnung von Menschen, vornehmlich Frauen, die sowohl Männer grundsätzlich als Bedrohung wahrnehmen als auch trans Frauen in diese Bedrohung miteinschließen. Sie sprechen transidenten Menschen (selbstverständlich zu Unrecht) ihre Identität ab, wobei sie aber vor allem trans Frauen attackieren.

[21] Vgl. hierzu: Anja Hänsch: Der Flirt mit der Göttin. Göttinnenschwärmereien in der Altorientalistik, Altphilologie und Anthropologie in Bezug zur neureligiösen Göttinnenbewegung des 20. Jahrhunderts, in: Julia Katharina Koch, Christina Jacob, Jutta Leskovar (Hgg.): Prähistorische und antike Göttinnen. Befunde – Interpretationen – Rezeption, Münster/New York 2020, S. 195–220, S. 208.